60 Jahre HBL
60 Jahre HBL: Der THW Kiel und eine Saison für die Ewigkeit

„Air France“ Daniel Narcisse und die Meistermannschaft, Foto: Klahn
Der THW Kiel ist nicht nur Rekordmeister der HBL, sondern spielte auch eine Rekordsaison. Mit 68:0-Punkten setzte der THW Kiel in der Serie 2011/12 einen historischen Meilenstein. Trainer Alfred Gislason wollte noch mehr. Die Geschichte einer Obsession.
Die Fans auf den Rängen hatten längst die Feierlichkeiten eingeläutet. Schließlich war die perfekte Saison besiegelt, da der THW Kiel an jenem 2. Juni 2012 gegen den VfL Gummersbach hoch führte und am Ende mit 39:29-Toren siegte. 34 Siege in 34 Spielen: Das Team von Alfred Gislason hatte in dieser Serie 2011/12 einen Rekord für die Ewigkeit aufgestellt. Und doch wurde es kurz vor der letzten Sirene auf der Kieler Bank noch einmal hektisch.
Gislason nämlich beorderte seinen Kreisläufer Marcus Ahlm, den er eine Viertelstunde vor Schluss ausgewechselt hatte, zu sich und sagte ihm, er solle sich bereit machen für die letzten Minuten. „Warum?“, fragte Ahlm. Nur noch zwei Tore fehlten, dann hätte das Team auch noch 300 Tore plus in der Abschlusstabelle, brüllte Gislason. Doch Ahlm, sichtlich baff, weigerte sich. „‘Trainer‘, hat er gesagt, jetzt ist Schluss“, erinnert sich Gislason. „Und dann hat sich wieder hingesetzt.“
Der amtierende Bundestrainer kann über diese Episode heute lachen. Damals illustrierte diese Anekdote, dass die Leidenschaft, mit der er diese historische Bestmarke angestrebt hatte, am Ende zu einer Obsession geriet. Als das Team im Frühjahr die schwersten Gegner auswärts hinter sich hatte, erinnert sich Gislason, „da habe ich gesagt: Vielleicht ist es möglich, noch zu Null zu schaffen. Also habe ich dann immer ziemlich viel Druck auf die Mannschaft gemacht.“
Begonnen hatte die historische Saison mit einer exotischen Reise in den Indischen Ozean. Daniel Narcisse, der auf La Réunion geborene Rückraumstar, hatte auf Einladung des dortigen Tourismusdepartments eine Woche im Urlaubsparadies organisiert. Die Profis wanderten in wunderschöne Talkessel, rasten mit Mountainbikes durch Zuckerrohrfelder und schwebten mit Paraglidern zum Strand hinab. „Um sich als Mannschaft für die nächste Saison einzufinden, waren diese Tage optimal. Von dieser Reise werden wir noch lange zehren“, meinte Kapitän Ahlm danach.
„Wir haben hier Dinge erlebt, die man als Handballer sonst nicht erleben kann. Es war eine sehr schöne Woche“, sagte auch Gislason, der andererseits manchmal genervt wirkte. „Damals war ich ab und zu sauer und habe auch ein bisschen mit der Mannschaft gekämpft, damit wir überhaupt trainieren konnten.“ Manche vereinbarte Hallenzeiten fiel weg, weshalb Gislason den Organisator Narcisse als „Saboteur“ verdächtigte.
Doch die Laune des Coaches besserte sich, als sein Team am ersten Spieltag die SG Flensburg-Handewitt mit 35:21-Toren demontierte und in einen spielerischen Flow geriet. Kim Andersson, der Rückraum-Linkshänder, spielte als heimlicher Regisseur die Serie seines Lebens, und wenn er auf seiner Position eine Pause brauchte, war da noch der famose Christian Zeitz.
Hinzu kamen im Rückraum vier hochkarätige Rechtshänder. Neben Narcisse, der nicht zufällig „Air France“ genannt wurde, überforderten auch Filip Jicha, Momir Ilic und Aron Palmarsson jede gegnerische Defensive. „Es war fast egal, wer spielte. Deswegen konnten wir die ganze Zeit rotieren.“ In der Defensive verriegelten der überragende Thierry Omeyer oder Andreas Palicka das eigene Gehäuse.
Nur einmal, beim 33:32-Auswärtssieg am 30. Oktober 2011 in Berlin, geriet die weiße Weste in Gefahr. So konnte das Team schon am 29. Spieltag gegen den SC Magdeburg (32:27) die Meisterschaft unter Dach und Fach bringen. Und als das folgende Auswärtsspiel beim Meister des Vorjahres HSV Handball (38:34) ebenfalls siegreich verlief, nahm die historische Saison Form an.
Nur noch einmal geriet der Rekord, der noch mit dem Pokalsieg gegen Flensburg (33:31) versüßt wurde, noch in Gefahr: Als die Mannschaft sich nach dem Champions League-Sieg gegen Athletico Madrid vor dem vorletzten Spieltag für zwei Tage nach Mallorca verabschiedete und dem Leben als Leistungssportler für einen Moment Lebewohl sagte. Im folgenden Auswärtsspiel in Hildesheim (35:24) enttäuschte das Star-Ensemble seinen Coach nicht. „Das ist ein Rekord, der eingeholt werden kann, aber nicht mehr übertroffen werden kann“, sagte Gislason danach mit sichtlichem Stolz. Das Verpassen seines letzten Ziels, die 300 Tore plus, hatte er schnell verschmerzen können.













