60 Jahre HBL
60 Jahre HBL: Der Triumph der Dörfer

Fotos: Pfrang
Die SG Leutershausen wird 1968 Deutscher Meister – doch auch viele andere Dorfvereine haben die Handball-Bundesliga in ihrer 60-jährigen Geschichte aufgemischt.
Überall Menschen, rot-weiß geschmückt das ganze Dorf. Traktoren fuhren durch den Ort, und auf den Anhängern ließen sich die Helden feiern. Die Zwillinge Michael und Uli Roth, die beide später Nationalspieler wurden und 1984 in Los Angeles die olympische Silbermedaille gewannen, waren an jenem 24. März 1968 erst sechs Jahre alt. Doch natürlich erinnern sie sich an diesen Umzug, mit dem die SG Leutershausen ihre Handballer feierte, die einen Tag zuvor mit einem 20:13-Endspielsieg gegen Gummersbach Deutscher Meister geworden waren.
Die Jungs waren schließlich familiär vorbelastet. „Der Papa war noch selbst bis 1967 aktiv und 1966 mal eben Vizemeister geworden”, sagt Michael Roth. Der Papa: Das war kein Geringerer als Oskar Roth, genannt „Ossi“. Ein bekannter Basketball-Nationalspieler, der mit Heidelberg mehrfach Meister geworden war, aber zugleich als Handballer am Aufstieg des von Bernd Kuchenbecker trainierten Dorfvereins an der Bergstraße mitgewirkt hatte.
Dieser Meistertitel 1968 war der erste Triumph eines Dorfvereines. Aber viele weitere folgten, da der Handball auf dem Land seine historischen Wurzeln hatte. Ein Jahrzehnt nach der SGL dominierte der TV Großwallstadt die europäische Szene. Auch der TuS aus Hofweier, ein Ort mit nur ein paar hundert Einwohnern, spielte oben mit und produzierte Weltmeister wie Arno Ehret und Arnulf Meffle. Grün-Weiß Dankersen und die SG Weiche-Handewitt waren ebenfalls reine Dorfvereine. Und selbst der große THW Kiel hatte seine Wurzeln in Hassee, einem erst später eingemeindeten Vorort der Landeshauptstadt.

Der Erfolg der „Roten Teufel“ von der Bergstraße gründete einerseits auf einer herausragenden Jugendarbeit. Trainer Kuchenbecker, Weltmeister von 1952, entwickelte Talente wie Herbert Hönnige und Jürgen Plambeck zu Nationalspielern. Andererseits beruhte der Aufstieg auf dem Ehrgeiz der damaliger Verantwortlicher wie Dr. Walter Schmitt. Dieser motivierte weitere Basketballnationalspieler, auch für die SGL aufzulaufen. Neben Roth waren Volker Heindel und Hannes Neumann, der später ein bekannter Coach wurde, eigentlich Basketballer. Zugleich nutzte Schmitt seine Möglichkeiten als Chef einer Mannheimer Privatschule, wie Rückraumspieler Rüdiger-Felix Schmacke berichtet.
„Als ich 1964 mit meinem Studium in Göttingen fertig war, bekam ich viele Angebote“, berichtet Schmacke. Nicht nur der HSV-Trainer Heinz Perleberg warb um ihn, sondern auch die Gummersbacher, unter deren Trainer Cherry Brand er in der Studentennationalmannschaft gespielt hatte. „Aber ich fuhr zuerst nach Leutershausen, um mich dort umzuschauen“, erzählt Schmacke. „Die Sonne schien, es war eine herrliche Gegend mit den vielen Weinstöcken. Und dann bekam ich ein Angebot von Dr. Schmidt, in dessen Mannheimer Privatschule sechs bis acht Stunden die Woche zu unterrichten. Das war eine gute Möglichkeit für mich, weil man als Referendar nicht viel verdiente.“
Die SGL gehörte Mitte der 1960er Jahre jedenfalls zu den dominierenden Teams im deutschen Handball. 1969 erreichte die SGL erneut das Endspiel in der Halle und holte den Titel im Feldhandball. Als 1977 die eingleisige Handball-Bundesliga eingeführt wurde, konnte sich der Club nicht qualifizieren. Zwei Jahrzehnte später aber erlebte der Dorfverein eine unverhoffte Renaissance: 1992 stand die SG sogar im Play-Off-Finale um die Meisterschaft, unterlag aber einem weiteren Dorfverein: der SG Wallau/Massenheim.
Neben den Routiniers Uli Roth und Uli Schuppler traten dabei Spieler wie Jörg Kunze, Holger Nagel oder Jörg Löhr ins Rampenlicht, viele trugen auch das Trikot des Deutschen Handballbundes. Diese deutsche Vizemeisterschaft war vor allem bemerkenswert, weil die Zeit der kleinen Dorfclubs angesichts der begrenzten finanziellen Möglichkeiten eigentlich zu Ende war. „Die SG verpasste den Wandel zum Profitum”, sagt Michael Roth, der eine erfolgreiche Trainerkarriere startete. Jedenfalls warten die Handballfans an der Bergstraße seither auf die Wiederholung der Traktor-Parade vom 1968.