HBL
ÜberZahl – Die Zahlenkolumne: Expected Goals im Handball

Expected Goals (xG) haben sich im Fußball als sehr aussagekräftige Metrik bewährt und werden dort mittlerweile auch bei Bundesliga-Übertragungen mehrfach eingeblendet. In der neuen Ausgabe von „ÜberZahl“ betrachtet Datenanalyst Julian Rux deshalb die Aussagekraft und Analysemöglichkeiten von xG in der DAIKIN HBL sowie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zum Fußball.
Bennet Wiegert sagte vor wenigen Jahren im Interview mit SPOX, dass es in seiner Spiel-Philosophie darum ginge „die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen zu steigern. Dabei geht es vor allem darum, Würfe zu kreieren, die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, für eine gute Abschlussquote in Frage zu kommen“.
Diese Unterteilung der Qualität von Würfen macht wohl jeder Handball-Fan. Gegenstöße, bei denen der Angreifer allein auf den Torhüter zuläuft, werden automatisch als Abschlüsse mit höherer Erfolgsaussicht gesehen als eng verteidigte Würfe aus zehn Metern. Mithilfe von statistischen Modellen lässt sich diese subjektive Bewertung auch in Zahlen übertragen.
Anhand von Faktoren wie der auf den Zentimeter genauen Wurfdistanz, dem Winkel oder der Position der nächsten Verteidiger und des Torhüters lässt sich berechnen zu wie viel Prozent jeder einzelne Wurf durchschnittlich erfolgreich gewesen wäre. In den vergangenen Jahren ist diese Methodik besonders im Fußball als „Expected Goals (xG)“ bekannt geworden.
Vorbild Fußball
Im Fußball hat sich gezeigt, dass die Aufsummierung der einzelnen xG-Werte aller Schüsse eine deutlich bessere Aussage über die Qualität der Mannschaften zulässt, als es tatsächliche Ergebnisse tun. Denn im Fußball spielt der Zufall eine sehr große Rolle, da pro Spiel nur rund drei Tore fallen (3,2 waren es in der vergangenen Saison der Fußball-Bundesliga). Ein einzelnes Tor hat also direkt eine sehr große Auswirkung, das Tor kann aber auch einfach nur durch Zufall entstanden sein. Genauso wie auch kein Gegentor kassiert zu haben und schlussendlich das Spiel zu gewinnen einfach nur Zufall sein kann. Aufsummierte xG-Werte zeigen dies an.
Eines der besten Beispiele dafür ist die letzte Saison von Jürgen Klopp bei Borussia Dortmund. Nach der Hinrunde 2014/15 stand der BVB auf einem Abstiegsplatz, die xG-Werte der Spiele zeigten jedoch, dass Dortmund verhältnismäßig viel „Pech“ hatte und eigentlich auf dem vierten Platz hätte stehen können. Am Ende landete der BVB auf dem siebten Platz, nachdem die Borussen in der Rückrunde tatsächlich die viertmeisten Punkte holten.
Early Adopter des xG-Prinzips, wie die Engländer Matthew Benham und Tony Bloom, verhalf es sogar zu viel Geld. Denn mit Hilfe von xG konnten Anfang des Jahrtausends bessere Gewinnwahrscheinlichkeiten von Spielen berechnet werden, als es Wettanbieter damals konnten. Beide verdienten mit Sportwetten Millionen und kauften sich damit in ihre Lieblingsfußballclubs FC Brentford beziehungsweise Brighton & Hove Albion ein. Diese führten sie nach vielen Jahren in unterklassigen Ligen in die Premier League, fester Bestandteil war dabei immer fortgeschrittene Methoden der Datenanalyse.
Andere Voraussetzungen im Handball
Während es im Handball noch bei weitem keinen Matthew Benham oder Tony Bloom gibt, gibt es jedoch auch schon seit Jahren Modelle und Veröffentlichungen zu Expected Goals. Auch die vergangenen beiden ÜberZahl-Kolumnen basierten auf xG-Daten.
Was sich schnell zeigte, war, dass nicht alles aus dem Fußball direkt übernommen werden kann. Denn Zufall spielt im Handball aufgrund der viel häufigeren Abschlüsse und deutlich höheren Erfolgswahrscheinlichkeit pro Wurf eine viel kleinere Rolle. Während in der vergangenen Fußball-Bundesliga-Saison ein Tor durchschnittlich 31,3 Prozent aller Tore in einem Spiel ausmachte, waren es in der vergangenen Saison der DAIKIN HBL durchschnittlich 1,7 Prozent (58,9 Tore pro Spiel). Der Einfluss eines einzelnen Tores und auch des Zufalls auf das Gesamtergebnis sind also viel geringer.
Aus diesem Grund bieten Expected Goals im Handball nicht wirklich eine bessere Einschätzung der tatsächlichen Teamstärke, sind aber in anderen Bereichen sehr nützlich.
Aufgrund der viel häufigeren Abschlüsse lässt sich zum Beispiel (besonders auf Spielerebene) besser bewerten, wer Chancen überdurchschnittlich gut nutzt, oder auch wer sich konstant gute Abschlüsse herausspielt.
So hängt wie bereits im Detail analysiert der Aufschwung des ThSV Eisenach stark damit zusammen, dass die Wartburgstädter es schaffen, sich aktuell die durchschnittlich besten Würfe der Liga herauszuspielen, mit einer erwarteten Trefferquote von durchschnittlich 65,5 Prozent. Dazu erzielen sie 3,5 Prozent mehr Tore als nach xG erwartet, der fünftbeste Wert.

Den besten Angriff der Liga stellen aktuell allerdings klar die Füchse Berlin mit 30,8 Toren pro 50 Ballbesitze. Auch dies lässt sich mit xG erklären. Sie spielen die zweitbesten Wurfchancen heraus, mit einer durchschnittlich erwarteten Trefferquote von 64,9 Prozent, was der drittbeste Wert der Liga ist. Dazu verwandeln sie auch noch 8,4 Prozent mehr ihrer Würfe als erwartet, kein anderes Team ist hier besser.

Außerdem lässt sich so auch Bennet Wiegerts Zitat vom Beginn bestätigen. Denn in der vergangenen Saison, als der SC Magdeburg Deutscher Meister wurde, hatten der SCM eine durchschnittlich erwartete Trefferquote von 67,5 Prozent und erzielte dazu noch 6,0 Prozent mehr Tore als erwartet. Beides eindeutige Bestwerte der Liga.
Ein Grund, warum es beim SCM in der aktuellen Saison nicht mehr ganz so gut wie in der vergangenen läuft, lässt sich ebenfalls damit erklären. Denn sie spielen sich nur noch die zweitbesten Würfe heraus (65,3 % erwartete Trefferquote) und erzielen nur am sechstmeisten mehr Tore als erwartet (+2,8 %).
Erkenntnisgewinn auch bei Spielern
Auf Einzelspielerebene funktionieren Expected Goals ebenfalls und helfen zum Beispiel dabei zu erklären, warum Mathias Gidsel so herausragend ist. Denn unter allen 82 Rückraumspielern mit mindestens 50 Feldwürfen hat der Däne die vierhöchste Wurfqualität, mit einer erwarteten Trefferquote von 65,4 Prozent.

Tatsächlich verwandelt Gidsel in der aktuellen Saison 76,5 Prozent seiner Würfe, was Bestwert unter allen Rückraumspielern ist. Insgesamt erzielt er 17,0 Prozent mehr Tore als erwartet, der siebtbeste Wert unter allen Rückraumspielern. Kein anderer Rückraumspieler ist sowohl bei der Wurfqualität als auch bei den mehr erzielten Toren als erwartet in den Top 10, lediglich Gidsels Teamkollege Fabian Wiede (61,7 % Wurfqualität, +15,3 mehr erzielte Tore) schafft es ebenfalls in beiden Kategorien in die Top 15.

Eine weitere Anwendungsmöglichkeit von xG ist – wie in der letzten Ausgabe von ÜberZahl genauer betrachtet – eine Möglichkeit Torhüter unabhängig von der Leistung der Verteidigung vor ihnen zu bewerten.
So zeigt die auf xG-basierende Adjusted Save Percentage, dass am vergangenen Wochenende Magdeburgs Sergey Hernández (51,7 %) zwar die bessere Paradenquote als sein gegenüber Martin Tomovski hatte (47,4 %). Die tatsächliche Leistung Tomovskis war aber noch stärker zu bewerten, da die Abwehr deutlich schwieriger zu parierende Würfe zuließ. Bei durchschnittlichen Voraussetzungen hätte Tomovskis Leistung einer Paradenquote von 46,9 Prozent entsprochen, die von Hernández 38,9 Prozent.
Expected Goals sind also mittlerweile nicht nur im Handball angekommen, sondern liefern einen großen Mehrwert in der Analyse. Bis sie und zahlreiche weitere auf ähnliche Ideen basierende Metriken, die im Fußball bereits für die Evaluation von Spielern genutzt werden, auch im Handball eine große Rolle spielen, ist es nur noch eine Frage der Zeit.
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